Sternenstaub, 02.08.2008

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    Sternenstaub, 02.08.2008

    Eines Morgens zwischen dem Ende eines Traums und dem wirklichen Aufwachen hatte Alvyra ein sehr merkwürdiges Gefühl, das sich kaum beschreiben ließ. Das einzige, an das sie sich nachher noch zweifelsfrei erinnerte, war der Eindruck von Alter. Dieses höchst seltsame Gefühl mußte Tausende, vielleicht Millionen von Jahren alt sein. Oder waren für sie im Bruchteil einer Sekunde erdgeschichtliche Zeitalter vergangen? Sie hätte es nicht sagen können. Aber es hatte in ihr eine Art Sehnsucht wachgerufen. Sie hätte alles darum gegeben, dieses Gefühl wieder zu spüren und zu ergründen, was dahintersteckte.

    Sie beendete die Schule, ging arbeiten, hörte wieder damit auf, heiratete und schenkte mehreren Kindern das Leben. Und über die Jahre hinweg hatte sie immer wieder einmal diese seltsame Empfindung. Es kam ihr vor, als höre sie einen Rhythmus oder Musik, und sie fühlte sich … so seltsam … frei von irgendeiner Körperlichkeit … fast, als sei sie nur ein Sandkorn am Strand oder ein Wassertropfen im Meer. Ein Lichtstrahl inmitten der Sonne … und doch noch anders … einfach unbeschreiblich. Unbeschreiblich leicht und frei und sorglos.

    Sie sah die Kinder aufwachsen, zur Schule und zur Arbeit gehen, selbst heiraten und Eltern werden, und nie kam sie ihrem so seltsamen Gefühl, dem sie nachjagte, wirklich auf die Spur. Sie lernte Meditieren, aber sie kam der Empfindung nicht näher. Sie beschäftigte sich mit autogenem Training, jedoch hatte auch das nicht den von ihr gewünschten Erfolg. Ihr Mann verließ sie, weil er in ihrer Jagd nach dem Glück nur eine Spinnerei sah. Die Kinder und Enkel besuchten sie zwar, verstanden aber nicht, was es war, das sie so gerne ergründen wollte. Anscheinend war das etwas, was niemand sonst spüren konnte. Jedenfalls hatte bisher noch niemals jemand, den sie kannte, Andeutungen gemacht, die sie wiedererkannt hätte, die sie dem Geheimnis nähergebracht hätten.

    Darüber wurde sie alt und verbittert.

    Eines Morgens jedoch, so schien es ihr zumindest, kam sie endlich dahinter, was es war.

    Sie war soeben aufgewacht. Sie erinnerte sich an keinen Traum. Sie drehte sich auf die andere Seite und blickte in die Richtung der bald aufgehenden Sonne.

    Da war es wieder. Dieses Gefühl … Nein, es war gar kein Gefühl. Sie fühlte nichts. Sie spürte den eigenen Körper nicht mehr … Sie war nur noch ein winziger Punkt, so schien es, ein Atom mitten unter anderen Atomen. Eine angenehme Art von Nichtexistenz, mit genügend Leere um sich herum, so daß die anderen Atome nicht störten. Und alles war umgeben von einer träumerischen, aber rhythmischen Melodie, sich ewig wiederholend, wie die Brandung an der Küste. Das Meer zieht sich zurück … Einatmen. Die Wellen stürzen auf den Strand … Ausatmen.

    Ausatmen …

    Der Punkt, das Atom, das sie war, war plötzlich ein Stern. Ein Stern unter Milliarden und Abermilliarden von Sternen, schwingend in der rhythmischen, traumhaften Musik der Ewigkeit, mit viel Platz um sich herum und doch fest in den Tanz der Elemente eingebunden.

    Mit ihrem letzten Herzschlag strömte ein unglaubliches Glücksgefühl über sie hinweg, weil das Geheimnis ihr nicht mehr verborgen war.